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Will ich das alles wirklich hören?

Seit einigen Wochen pendle ich mit dem Zug zur Arbeit – nicht ganz freiwillig, aber das ist eine andere Geschichte. Eigentlich wollte ich diese zwanzig Minuten als kleine Oase nutzen: Zeitung lesen, aufs Handy tippen, die Seele baumeln lassen. Doch immer öfter finde ich mich mitten in einer unfreiwilligen Reality-Show wieder – «Telefongespräche im ÖV».

Neulich rief eine junge Frau ziemlich laut ihren Arzt an und berichtete ihm in epischer Länge von ihren Blasenproblemen. Ich schwöre, ich wollte nicht ¬zuhören! Aber spätestens, als sie am Ende noch ihre Handynummer durchs Abteil posaunte, war klar: Datenschutz wird überbewertet. Keine Sorge, ich habe die Frau nicht angerufen.

Ein anderer Stammgast, ein junger Mann, verwandelt das Abteil regelmässig in eine Mischung aus Gottesdienst und Karaoke. Singend und betend schreitet er mit dem Smartphone am Ohr den Gang entlang, nickt rhythmisch – und alle Mitreisenden dürfen Teil seiner spirituellen Verbindung sein.

Meine Sitznachbarin erzählte «ihrem Handy» kürzlich mit erstaunlicher Gelassenheit von ihren steigenden Schulden. Dass sie bislang keine Lösung gefunden hat, weiss nun auch Wagen 3, Sitz 12 bis 38. Und ein fremdsprachiger Herr brüllte neulich vom Zug-WC aus derart laut ins Telefon, dass sein Gesprächspartner ihn vermutlich auch ohne Empfang gehört hätte.

Besonders in Erinnerung blieb mir die Dame im Businessanzug, die während der Fahrt im Abteil einen Tisch für zwei Personen im lauschigen Gartenrestaurant reservierte. Sie nannte nicht nur Uhrzeit, sondern auch brav ihren vollen Namen und ihre Telefonnummer. So laut, dass ich sie beim Aussteigen mit Namen verabschiedete – und ihr, ganz höflich, einen guten Appetit wünschte.

Unverständlich sind für mich auch jene jungen Leute, die pausenlos, sehr persönlich und für alle im Wagen gut hörbar telefonieren – bis zur Endstation. Und dann zum Schluss – als Pointe – noch schnell sagen: «Schön, dass du mich am Bahnhof abholst, bis gleich.»

Ich selbst nehme im Zug konsequent keine Anrufe entgegen. Nicht, weil ich nichts zu erzählen hätte, sondern weil ich den Mitreisenden meine Gespräche ersparen möchte. Und vor allem, weil ich nicht riskieren will, dass jemand daraus eine Kolumne für die Zeitung schreibt.