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Pünktlich, sauber und ein bisschen kleptomanisch

Die Schweiz – das Land der Banken, der Kühe, des korrekten Abfalltrennens und der Gesetzestreue. Dachte ich jedenfalls. Doch nun zeigt eine repräsentative Studie von moneyland.ch: Nur 36 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer haben noch nie etwas gestohlen oder absichtlich nicht bezahlt. Die anderen? Na ja – sagen wir so: Das letzte Stück Schokolade sollte man besser nicht unbeaufsichtigt liegen lassen.

Am häufigsten wird im ÖV schwarzgefahren. 40 Prozent der Befragten haben es zugegeben, mindestens einmal ohne Ticket unterwegs gewesen zu sein. Und man erkennt sie an den nervösen Blicken, wenn an der Haltestelle einer mit einem verdächtig aussehenden Scan-Gerät zusteigt.

Auch am Arbeitsplatz geht es offenbar diebisch zu und her. 27 Prozent haben dort schon etwas mitgehen lassen. Man stelle sich das Büro eines besonders engagierten Kleptomanen vor: Ein Sortiment an Kugelschreibern, ein Dutzend Notizblöcke, ein Locher, drei Pakete Druckerpapier und der fancy Joghurt aus dem Kühlschrank, der eigentlich Sandra aus der Buchhaltung gehört hätte.

Im Coop und in der Migros sieht es kaum besser aus. 23 Prozent der Kundschaft haben schon mal etwas eingesteckt. Das macht den nächsten Einkauf gleich spannender und weckt beim einen oder anderen bestimmt die detektivische Spürnase. Vermutlich gibt es den einen Typen, der an der Selbstbedienungskasse immer zu wenig tippt, die Dame, die den Wein an der Kasse scannt, aber die Pralinés diskret verschwinden lässt, und das Kind, das sich die Smarties-Tüte öffnet und «probiert», bevor irgendjemand «nein» sagen kann.

Aber vielleicht macht auch das wiederum den Schweizer Nationalcharakter aus: äusserlich korrekt, innerlich dann doch ein bisschen schelmisch. Man bezahlt brav seine Steuern, trennt den Müll minutiös, grüsst freundlich den Nachbarn – und lässt dann im Coop das Bio-Gipfeli mitgehen. Es sind keine grossen Verbrechen, sondern diese unauffälligen Alltagsdelikte, bei denen niemand wirklich zu Schaden kommt. Vielleicht zeigt uns die Studie ja nur eins: Perfektion ist langweilig. Ein bisschen Schummelei hier, ein klitzekleiner Regelbruch da – das macht uns menschlich und irgendwie auch sympathisch.

Sarah Moll, Redaktorin