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«Grüeziiii»

Es gibt sie noch, die vergessene Kunst des Grüssens. Früher war es selbstverständlich, dass man sich auf der Strasse in die Augen schaute und freundlich «Grüezi» sagte. Heute gilt ein Nicken schon fast als aufdringliche Geste.

Anders beim Wandern. Im Engadin gibt es einen Weg, den die Einheimischen liebevoll «Grüezi-Weg» nennen. Er führt von der Alp Languard oberhalb von Pontresina hinauf nach Muottas Muragl oberhalb von Samedan – oder umgekehrt – mit toller Aussicht, einigen schmerzfreien Höhenmetern und, ja, einer gehörigen Portion Höflichkeit.

Unsere Familie war in den Herbstferien dort unterwegs. Und wer hätte gedacht, dass ausgerechnet unsere Kinder – Vertreter der berüchtigten Generation Z, also jener Spezies, die angeblich nur noch mit gesenktem Kopf und Blick auf ihr Smartphone durchs Leben geht – das Grüssen für sich entdecken würden?

Schon nach den ersten Metern entwickelte sich ein regelrechtes Grüezi- Battle. «Wer schafft die meisten Reaktionen?», lautete das Spiel. Die Begrüssungen wurden vielfältiger: Vom klassischen «Grüezi», «Hallo» und «En guete Tag» über «Grüss Gott», «Servus» bis hin zum einheimischen «Bun di» war alles dabei.

Die Wanderer reagierten erfreut, überrascht oder etwas verwirrt – aber fast alle antworteten. Denn eine einzige Person, eine erwachsene wohlgemerkt, blieb stumm. Sie war ins Handy vertieft. Ironie der Geschichte: Nicht die Jugendlichen, sondern die Erwachsenen waren digital abgelenkt. Generation Z: 1. Erwachsene: 0.

Am Ende der Wanderung hatten unsere Kinder 89 Grüezi-Kontakte gesammelt. 89 Begegnungen, 89 kleine soziale Experimente – und null Beschwerden über die zweieinhalb Stunden bergauf und -ab. Kein «Wie weit noch?», kein «Ich mag nicht mehr!». Stattdessen «Da kommt wieder jemand! Bereit?» – «Grüeziiii!» Ich begann ernsthaft zu überlegen, ob man mit diesem Konzept nicht auch Haushaltsarbeiten attraktiver machen könnte. «Wer schafft mehr Geschirr als Mami?»

Auf der Talfahrt mit der Standseilbahn zückte mein Sohn dann doch sein Handy. Ich atmete tief durch, die digitale Realität hatte ihn wieder. Doch als ich ihm über die Schulter blickte, sah ich, was er getippt hatte: «Neuer Gruppenchat eröffnet: Grüezi-Challenge 2025. Wer macht mit?»

Vielleicht braucht es gar keinen erhobenen Zeigefinger, um Anstand und Freundlichkeit zu retten. Vielleicht reichen ein bisschen Höhenluft, eine schöne Aussicht – und WLAN.

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