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Jan Hlavica: «Am Ende des Tages kann sich jeder fragen: Was habe ich zum Erfolg beigetragen?»

Die Aarauer Bundesfeier fand in dies Jahr wieder im Stadtteil Rohr statt. Geplant war ein geselliges Beisammensein am 1. August unter den Linden, doch «Petrus» verlegte die Bundesfeier ins Trocken, in die Auenhalle. Nach der Begrüssung der Festgemeinde durch Stadträtin Franziska Graf hielt der Aarauer Stadtbaumeister Jan Hlavica die Festrede. 

In der Ansprache (Die ganze Rede finden Sie weiter unten) blickte Jan Hlavica auf die letzten 40 Jahre seines Lebens zurück. Als 20-Jähriger ist er aus Tschechoslowakei in die Schweiz geflüchtet und durchlebte die Stationen Asylbewerber, Internierter, vorläufig Aufgenommener, später als Jahresaufenthalter und Niedergelassener, bis er nach 26 Jahren eingebürgert wurde. Er erlebte, wie jegliche Kritik in seiner ursprünglichen Heimat zum Verhängnis wurde und Bürgerinnen und Bürger verfolgt wurden. Wie das Misstrauen untereinander die Gesellschaft auffrass. In der Schweiz habe er gelernt zuzuhören und zu begreifen: «Ich habe andere, differenzierte Meinungen gehört, andere Lebenshaltung und Lebensphilosophien kennen gelernt… und danach gelernt diese anderen Meinungen zu respektieren und diese auch zu akzeptieren.» Er habe gelernt, was ein demokratischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess sei. «Und ich habe gelernt, dass Kritik nicht nur erlaubt, sondern nötig ist. Und dass konstruktive Kritik mich und die Gemeinschaft weiterbringt.»

Die MusikGesellschaft Rohr umrahmt die Feier musikalisch und unterstützte die Besucherinnen und Besucher beim Singen der Nationalhymne. Im Anschluss offeriert die Stadt Aarau Bratwurst mit Brot und den Kindern eine Glace. RAN

Die 1.-August-Rede 2023 von Stadtbaumeister Jan Hlavica in Aarau-Rohr

Liebe Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt Aarau
Liebe Bürgerinnen und Bürger von Aarau
Liebe Gäste

Der 1. August ist ein spezieller Tag. Für uns alle, darum sind wir hier. Für mich besonders: Der Schweizer Nationalfeiertag wurde mir „nicht in die Wiege gelegt“. Es war eine Annäherung, eine stetige Verinnerlichung in den 40 Jahren, in denen ich verschiedene „Aggregatzustände“ in der Schweiz erlebt habe: zuerst als Asylbewerber, danach als Internierter, anschliessend als vorläufig Aufgenommener, später als Jahresaufenthalter und Niedergelassener, bis ich nach 26 Jahren eingebürgert wurde.

Ich habe viel gelernt in den letzten 40 Jahren. Nicht, dass ich vorher nichts gelernt hätte: in den ersten 20 Lebensjahren habe ich gelernt zu lesen, schreiben, rechnen und zu denken. Und auch erlebt, wie jegliche Kritik in meiner ursprünglichen Heimat zum Verhängnis wird, Bürgerinnen und Bürger verfolgt werden, wie das Misstrauen untereinander die Gesellschaft auffrisst. Das war auch der Grund, warum ich als 20-Jähriger aus der damaligen Tschechoslowakei in die Schweiz geflüchtet bin. In den nachfolgenden 40 Jahren habe ich aber gelernt zuzuhören und zu begreifen: Ich habe andere, differenzierte Meinungen gehört, andere Lebenshaltung und Lebensphilosophien kennen gelernt… und danach gelernt diese anderen Meinungen zu respektieren und diese auch zu akzeptieren. Ich habe gelernt, was ein demokratischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess ist. Und ich habe gelernt, dass Kritik nicht nur erlaubt, sondern nötig ist. Und dass konstruktive Kritik mich und die Gemeinschaft weiterbringt.

Wenn jemand eine andere Meinung oder Haltung vertritt, ist die Person höchstens ein Gegner, aber nicht ein Feind!

Oder besser: Man kann die Vertreterinnen und die Exponenten anderer Meinung sogar als „Bereichernde“ statt als Gegner betrachten. Als Bereichernde, die mir Hinweise auf Punkte geben, die ich bislang nicht oder zu wenig beachtet habe. Die mir neue Inputs und eine neue Sicht vermitteln, die mich oder die konkrete Sache weiterbringen. Andere Erfahrungen, Kritik oder Inputs anzunehmen, darf nicht heissen, sich wie ein Wendehals zu benehmen oder unser Fähnchen in jeden wechselnden Wind zu hängen. Vielmehr soll jede und jeder für die eigenen Werte einstehen und dafür kämpfen. Aber eben nicht mit einer vorgefassten Meinung, sondern mit Argumenten und mit Überzeugungsarbeit, mit Sachkenntnissen, Fakten und mit Dialogbereitschaft!

Ich glaube an die Kraft des Arguments! Und ich glaube an die Kraft des Dialogs!

An dieser Stelle erlaube ich mir einen kurzen aktuellen Exkurs: wenn die Gegner einer Abstimmungs-Vorlage oder einer Idee mit Anschuldigungen argumentieren und gar Vergleiche mit einer Diktatur ziehen, dann fehlt mir dafür jedes Verständnis! Diktatorische Massnahmen sind in der Schweiz zum Glück nicht möglich – nicht mal unter Notrecht. Das Wort Diktatur für demokratisch legitimierte Entscheide zu verwenden, ist ein krasser Missbrauch – und es ist gegenüber Menschen, die tatsächlich in diktatorischen Regimes leben müssen, ein Affront.

Die Voraussetzung für mein Lernen war aber die Möglichkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben. Dank einer provisorischen Arbeitsbewilligung konnte ich von Anfang an dabei sein – trotz meinem damals sehr bescheidenen Wissen. Ich konnte arbeiten, Geld verdienen und auf eigenen Beinen stehen. Gleichzeitig konnte ich studieren, eine winzige Wohnung mieten – ich konnte selbständig und selbstbestimmt leben. Mit der Zuversicht, dass wenn ich gut arbeite, dass ich dann einen guten Lohn bekomme. Und so konnte ich mich integrieren, ohne das Wort Integration jemals in den Mund zu nehmen. Ich habe Kollegen und Freunde gefunden, so konnte ich, ja musste ich die Sprache lernen, ich habe den Schweizer Alltag gelernt und wurde akzeptiert. Daher kann ich aus meiner eigenen Erfahrung behaupten, dass für eine erfolgreiche Integration Begegnungen und gemeinsame Erlebnisse die wichtigsten Voraussetzungen sind. Das gilt für alle, die in der Schweiz leben, auch für die Asylsuchenden und vorläufig Aufgenommene. Austausch und Begegnungen ermöglichen den Neuankommenden sich an der Gesellschaft zu beteiligen. Und wo geht das besser als am Arbeitsort? Dort fühlt man sich nützlich und dort lernt man die Werte der Gesellschaft kennen und schätzen. Und lernt die so notwendige hiesige Sprache. Dabei erfährt man direkt auch den Zusammenhang zwischen Leistung und Entlohnung.

Was sind aber eigentlich die Eckpfeiler und Grundregeln dieser, unserer Gesellschaft?

Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben ist Vertrauen. In die Menschen, ins System, in die Gesetze und Regeln. Wir alle tragen dazu bei, dass das Klima des Vertrauens da ist, oder eben nicht. Wie können Bürgerinnen und Bürger aber das Vertrauen in die Behörden und in die Politik haben, wenn sich die gleichen politischen Exponenten gegenseitig mit Vorwürfen eindecken und mit Misstrauen begegnen?
Ich spreche dabei nicht von blindem Vertrauen, sondern von „kritischem“ Vertrauen. Vom Gefühl, ernst genommen und gehört zu werden. Nur das schafft die Glaubwürdigkeit…

Das Vertrauen und die Glaubwürdigkeit sind ein unzertrennliches Paar.

Ich habe als Mensch, als Architekt und als Stadtbaumeister viel gelernt. Aber ich habe auch gelernt, dass man „verlernen“ kann. Nur so ist es für mich erklärbar, dass die Bereitschaft zu einem Dialog – auf der gleichen Augenhöhe – manchmal nicht vorhanden ist.

Ich erlebe immer wieder, dass jemand gleich am Anfang oder sogar vor der Verhandlung unterschiedlicher Sichten zu einem Bauvorhaben sagt: «Ich gehe bis ans Bundesgericht! » Dann frage ich mich, wie weit geht ihr oder sein Demokratieverständnis überhaupt? Oder hat dies die Person nicht gelernt oder sogar „verlernt“? Das zweite ist meine Befürchtung. Denn ich sehe eine Tendenz, dass die lang erprobten Fähigkeiten, gemeinsam eine Lösung oder einen Kompromiss zu suchen, schwindet. Und dass manche verlernt haben, dass eine gemeinsam gefundene Lösung viel dauerhafter ist als eine Konfrontation. Das gilt im Grossen wie im Kleinen.

Umso mehr, als die Welt in der letzten Zeit unberechenbarer geworden ist. Plötzliche und unerwartete Ereignisse oder sogar auch Taten oder eher Untaten einzelner Menschen stellen unsere über lange Zeit gewonnenen Erkenntnisse und erprobte Lösungsansätze in Frage. Beispiele kennen wir in der letzten Zeit zu Hauf: Gewaltausbrüche, Corona-Pandemie, Klimakrise, militärische Auseinandersetzungen und Kriege, Naturereignisse, wirtschaftliche Schwankungen und Unstabilitäten, Nahrungs- und Energieknappheit… die Liste ist lang.

Dass es für all diese Probleme nicht von Anfang an eine Patentlösung gibt, ist verständlich. Und ob ich als Einzelner etwas gegen den Ukraine-Krieg ausrichten kann, ist fraglich. Aber ich kann als Privatmann im Kleinen meinen Beitrag leisten: Energie sparen etwa, wohltätige Institutionen unterstützen, Freunden, Nachbarinnen und der Familie helfen. Aber vor allem kann ich meine Arbeit möglichst gut und zuverlässig leisten, glaubwürdig und berechenbar handeln. Und den Mitmenschen mit Respekt und Neugier begegnen.

Die Welt verändert sich, ob wir wollen, oder nicht. Und da wir ein Teil davon sind, ändert sich auch unsere Welt. Es gibt „Universalwerte“ wie Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Chancengleichheit. Wie diese Werte von den Einzelnen aber gelebt werden, für das bestehen unterschiedliche Meinungen und Haltungen: Was sind meine Lebensziele, was will ich erreichen? Wie gestalte ich meinen Alltag? Was ist der Sinn meines Lebens? Wo stehe ich? Wie sehen mich die anderen?

Auf solche Fragen gibt es je länger je mehr Antworten. Die Gesellschaft ist in den letzten Jahren vielfältiger, mehrdeutiger und bunter geworden. Dies erfordert von uns Lernfähigkeit, Offenheit und Flexibilität.

Wir müssen lernen mit Widersprüchen zu leben und diese auch zu akzeptieren.

Bei der Gestaltung unseres Lebensraums haben die von mir vorhin angesprochene Werte wie – Dialogbereitschaft, gesellschaftlicher Zusammenhalt und gemeinsame Lösungsfindung – eine zentrale Bedeutung. Wir leben in einem geografisch und strukturell begrenzten Raum. Und unsere Ressourcen, das wissen wir, sind begrenzt. Aber unsere Ansprüche steigen: die Ansprüche auf gutes Wohnen, möglichst uneingeschränkte Mobilität (…sei es für den Berufs- oder Freizeitverkehr), Entfaltungsmöglichkeiten bei der Arbeit, möglichst lange und erlebnisreiche Freizeit, gute Ausbildung und erstklassige Gesundheitsversorgung… Diese Ansprüche erfordern, ob wir wollen oder nicht, häufig den Bau einer immer grösseren und besseren Infrastruktur und neue Bauten. Seien es neue Schulräume, Alterseinrichtungen, Stadion und Sportplätze, Kulturstätten wie Reihhalle oder KIFF, neugestaltete Strassen – und Grünräume, neue Gewerberäumlichkeiten und Wohnsiedlungen…

Bei der Planung und Realisierung von Bauten entsteht immer eine Dreieck-Beziehung:

1. die Bauwilligen oder die für den Bau Verantwortlichen
2. die direkt oder indirekt Betroffenen, das heisst die Nachbarschaft oder die Gesellschaft
3. die Behörde, mit ihren zwei verschiedenen Aufgaben/Funktionen:
-> sie selber initiiert, plant und realisiert und andererseits muss sie entscheiden und bewilligen.

Diese Dreier-Beziehung ist ( …und das wissen wir bereits aus einer Zweierbeziehung) komplex und fordert Verständnis und Kompromiss-Bereitschaft von allen drei Seiten. Dies erlebe ich fast jeden Tag in meiner Tätigkeit als Stadtbaumeister.

Dabei prallen häufig die Eigen-Interessen auf die Interessen der Allgemeinheit. Und es stellt sich die zentrale Frage: Wie hoch sind die – für mich durchaus nachvollziehbare – Privat-Interessen zu gewichten? Vieles ist dabei klar geregelt, oft geht es aber um die Interessenabwägung. Das braucht Zeit und Diskurs: Sind diese Partikular-Interessen – der in der Verfassung festgeschriebene und garantierte Schutz des Individuums – höher zu gewichten, als die des Nachbars oder sogar als die der Allgemeinheit?
Ich bin überzeugt, dass wenn sich diese Frage alle Beteiligten immer stellen würden und diese (für sich) auch ehrlich beantworten würden, dann würden viele Einwendungen oder Beschwerden nicht verschickt. Und allgemein würde die Zahl der Gerichtsfälle abnehmen.

Beruflich beschäftigt mich stark, wie wir Aarau unter diesen Bedingungen sinnvoll weiterentwickeln. Wie und wo können wir zum Beispiel angenehme öffentliche Räume schaffen oder sie verbessern? Wie können wir optimale Voraussetzungen für einen attraktiven Arbeits- und Wohnort schaffen? Wie können wir Aarau als starken Wirtschaftsstandort positionieren und mit einem attraktiven kulturellen Angebot stärken? Wie kann sich die Bevölkerung bei diesen Aufgaben einbringen? Das fängt wieder im Kleinen an und gilt auch beim Grossen.

Es fängt bei den Sitzgelegenheiten am Graben und auf dem Bahnhofplatz an: schön sollen sie sein, bequem, mit Armlehnen für ältere Menschen, unzerstörbar gegen Vandalen. Kleinigkeiten sind das– ja, aber eben auch wichtig. So wichtig wie ein neues Oberstufenzentrum, Sporthallen, ein Pflegezentrum, ein neues KIFF, genug Wohnraum, mehr Bäume, schnelle Busse (aber nicht durch die Altstadt 😉 und komfortable Velorouten….

Das alles ist – nüchtern betrachtet – für die Entwicklung der globalen Welt nicht gerade entscheidend. Und doch: jedes Tun jedes Einzelnen ist ein Teil dieser Welt, unser Beitrag an diese Welt – ob wir es wollen, oder nicht.

Heute feiern wir den Nationalfeiertag eines Landes, das mir mehr als ein Zuhause bedeutet, mit dem ich mich durch all die Jahre eng verbunden fühle. Durch meine Tätigkeit, durch meine Familie, Freunde und Bekannte.

Und eines Landes, in dem „die Macht der Demokratie“ herrscht, in dem ich gelernt habe, die Grundwerte wie Akzeptanz, Respekt und Konsens, sowie das Glauben an den gemeinsamen Willen zu schätzen. Und in dem die gemeinsam entwickelten und breit akzeptierten Lösungen die Grundlage des Erfolgs sind. Und jede und jeder von uns, mich, Sie inbegriffen, trägt ein Teil dazu bei. Oder überspitzt gesagt: Am Ende des Tages kann sich jede und jeder von uns die Frage stellen: »Was habe ich verhindert? Was habe ich bewirkt? Was habe ich zum Erfolg beigetragen? »

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen einen schönen, erlebnis- und erkenntnisreichen 1. August.

Jan Hlavica, Stadtbaumeister Aarau