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Cirqu’9: Es wird «einzigartig und intensiv»

Mitte Juni ist es wieder so weit: Das Festival cirqu’ bespielt zwei Wochen lang die ganze Stadt mit einzigartigen und verrückten Zirkusproduktionen. Festivalleiter Roman Müller gibt einen Einblick in Motivation, Hintergründe – und erzählt, worauf man sich besonders freuen darf.

Herr Müller, wie würden Sie cirqu’ beschreiben?

Roman Müller: Hier zitiere ich gerne die Worte von Georg Matter, Leiter der Abteilung Kultur des Kanton Aargau. Er umschreibt cirqu’ in seinem Gastwort im Festivalprogramm folgendermassen: «Alle zwei Jahre bringt cirqu’ Schweizer «Eigengewächse» und internationale Produktionen der zeitgenössischen Zirkuskunst nach Aarau und verpasst der Stadt mit seiner poetischen, skurrilen, waghalsigen, lauten und fröhlichen, oft aber auch ganz subtilen und manchmal subversiven Präsenz für ein paar Tage einen ganz speziellen Zauber. cirqu’ unterhält, inspiriert und regt zum Nachdenken an. Es steht für Innovation, Kreativität, Kooperation und Zeitgeist.» – Das passt bestens!

Was unterscheidet cirqu’ von den klassischen Zirkussen wie Knie oder Monti?

Im klassischen Zirkus wird eine Aneinanderreihung von Nummern in den unterschiedlichsten Disziplinen gezeigt. Meistens ist das in eine flott erzählbare Dramaturgie eingebunden, die technische Leistung der Artisten und Artistinnen steht im Vordergrund.
Der zeitgenössische Zirkus versteht sich als künstlerisch viel freiere Form und kommt in verschiedensten Formaten daher. Nehmen wir zum Beispiel «Man strikes back» aus dem diesjährigen Programm: ein Jongleur und ein Schlagzeuger zeigen einen fünfzigminütigen Schlagabtausch. In einer traditionellen Form wäre ihr Stück auf eine Nummer von wenigen Minuten zusammengekürzt, bestehend aus den technischen Highlights. Das hätte natürlich auch seine Qualität, aber ich finde es viel spannender zu verfolgen, welche Geschichten sich entwickeln können, wenn Material und Bewegung erzählen dürfen.

Das Festival cirqu’ ist seit seiner Gründung 2015 unglaublich gewachsen. Was sind die Gründe für den grossen Erfolg von cirqu’?

Das Programm von cirqu’ ist eine gezielte Auswahl von Inszenierungen. Für eine Ausgabe des Festivals schaue ich mir im Vorfeld 200 bis 300 Stücke in ganz Europa an. Nur so finde ich die herausragenden und hochstehenden Produktionen. Das Programm von cirqu’ wird unterdessen auch international sehr beachtet und ist auf diese Art fast nirgends in Europa zu sehen. Und natürlich trägt auch die sensationelle Alte Reithalle dazu bei, die schöne Stadt Aarau und die Stimmung vor Ort. Zirkus kann ein breites Publikum ansprechen, die Nahbarkeit und Zugänglichkeit dieser körperlichen Kunstform – das ist einzigartig und intensiv.

Wie entstand cirqu’ überhaupt?

Ich war selber als Künstler über 20 Jahre auf den Bühnen in Europa – teils auch weltweit – unterwegs. Als ich dann 2013 selber in der Alten Reithalle spielen durfte, hat sie es mir sofort angetan. Ich habe vor meinem inneren Auge gleich einige sehr spezielle Stücke, die ich auf meinen Tourneen gesehen habe, in diese Halle hineinprojiziert und mir gedacht, dass sie der perfekte Ort dafür wäre. Zwei Jahre später wurde aus dem «Wäre» ein «Ist»!

Wie hat sich das Festival seit 2015 entwickelt?

Das erste kleine Festival dauerte fünf Tage und zeigte drei verschiedene Inszenierungen, das Publikum war sehr lokal – aus Aarau und der Region. Nun dauert cirqu’ zehn Tage und tausende von Zuschauer und Zuschauerinnen kommen teils von weit her. Es ist schon ein bisschen unglaublich, wie sich das Festival in diesen wenigen Jahren entwickelt hat.

In welche Richtung wird es sich weiter entwickeln? Lässt sich ein Trend erkennen?

Ich kümmere mich eigentlich nicht um Trends, sondern folge dem, was mich interessiert und spannend finde. Dabei habe ich natürlich die Hoffnung, dass das auch die Besucher und Besucherinnen interessiert. Bis jetzt war das so! Was ich mit der speziellen Corona-Ausgabe im Juni 2021 entdeckt habe, sind der öffentliche Raum und Performances, die sich über viele Stunden hinziehen. Besonders interessant finde ich hierbei, dass das Festival so Schnittstellen zu den Menschen der Stadt ermöglicht, die keine Karte für eine Vorstellung z.B. in der Alten Reithalle kaufen würden. All das belebt die Stadt, gibt ihr für die Dauer des Festivals eine andere Farbe.

Was sind Ihre persönlichen Highlights im diesjährigen Programm?

Davon gibt es viele! Sicher die Werkschau mit vier Arbeiten von Johann Le Guillerm, z.B. sein Zeltstück «Terces», dann natürlich «BITBYBIT» von MOVEDBYMATTER & Collectif Malunés – oder «La Ligne» von Chloé Moglia.

Eines der Highlights: Johann Le Guillerm mit seinem Zeltstück «Terces».

Was erwartet das Publikum sonst noch?

Zum Beispiel die Compagnie XY: 18 Akrobaten und Akrobatinnen kommen mitten in die Stadt, zu den Menschen, fliegen durch die Luft, formen menschliche Leitern. Sie nehmen Passantinnen und Passanten an die Hand, ganz behutsam, und führen sie in unerwartete Lagen. Das alles ohne festen Zeitplan und ohne Scheinwerfer. Vielleicht am Samstagmarkt am Morgen oder im Abendverkauf, im dichten Treiben der Rushhour am Bahnhof, man kann ihnen also fast nur per Zufall begegnen!

Wie viele Zuschauerinnen und Zuschauer werden erwartet?

Das ist bei den unterschiedlichen Formaten gar nicht so einfach zu beziffern. Einfach ist es bei den kartenpflichtigen Vorstellungen, da können ungefähr für 4’800 Menschen Platz nehmen. Dazu kommen aber Vorstellungen draussen, im öffentlichen Raum. Formate wie «La Transumante» über viele Stunden oder wie die Arbeit der 18-köpfigen Gruppe XY, die 5 Tage lang einfach in der Stadt unterwegs sind. Frei zugängliche Shows wie «Dans ton cirque» im Kasinopark oder Zirkus Chnopf auf dem Bahnhofsplatz für ein Familienpublikum. So kommen nochmal Tausende hinzu, die cirqu’ erleben werden.

Die Artistinnen und Artisten kommen aus Frankreich, Belgien und der Schweiz. Sind das die Zirkusländer von heute?

Im frankophonen Raum hat der Zeitgenössische Zirkus bereits seit bald 40 Jahren eine ganz andere Präsenz und Stellenwert als bei uns in der Schweiz. In den letzten 25 Jahren hat sich aber alles rasant entwickelt, in ganz Europa, aber auch in Südamerika, Australien und Kanada. Es ist unglaublich, was mit dem Zirkus auf der ganzen Welt passiert! Immer wieder wurde der Zirkus totgesagt, mit dem Aufkommen des Fernsehens zum Beispiel. Zirkus hat sich aber immer wieder gewandelt und neue Wege gefunden.

Sind Clowns noch Teil des zeitgenössischen Zirkus?

2017 hatten wir Gacon Bonaventure mit dem Stück «Par Leboudu», ein Solo von einer Stunde inklusive Clownsschminke. Oder Dani Ronaldo mit «Fidelis Fortibus» 2019, allerdings ohne Schminke, man kann ihn aber durchaus auch als Clown bezeichnen. Beide Stücke sind Meisterleistungen, einfach grandios, ganz rare Perlen, die ihren Weg in die heutige Zeit gefunden haben. Das ist selten und das Metier des Clowns gehört wohl zum schwierigsten dieser Welt. Dani Ronaldo wird übrigens 2025 wieder bei uns zu Gast sein!

Welche/n Künstler/Künstlerin hätten Sie gerne mal im Programm?

Da habe ich keine wirkliche Wunschliste, die meisten hatten wir bereits in Aarau oder sie kommen dieses Jahr! Es gibt Stücke, die ich gerne in Aarau gezeigt hätte, die aber leider nicht mehr gespielt werden. Diesen trauere ich ein bisschen nach!

Wie sieht allgemein die Zukunft des Zirkus aus?

Zirkus findet immer seinen Weg, ändert sich, geht mit der Zeit. So wird er immer seine Nischen finden.

Lieber Herr Müller, herzlichen Dank für das Interview. 

Sarah Moll

Cirqu’9

Festival für aktuelle Zirkuskunst
Vom 15. bis 25. Juni in Aarau

Alle Infos zum Programm und zum Festival gibt es auf www.cirquaarau.ch.