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Landammann Jean-Pierre Gallati: «Nützen Sie die Chance, in unserem Land mitbestimmen zu können!»

Der SVP-Regierungsrat und Landammann Jean-Pierre Gallati war rund um die Bundesfeiern im Aargau ein gefragter Mann. Am Vorabend des 1. August trat er in Holziken auf, am Nationalfeiertag in Safenwil – hier hielt er eine andere Rede – und in Sarmenstorf. Die Schwerpunkte seiner Rede handelten von Neutralität, der Landesverteidigung und der Direkten Demokratie.

Der schöne Sommerabend lockte eine grosse Zahl an Einwohnerinnen und Einwohner zur Reithalle Holziken, wo die Bundesfeier erneut  stattfand. Viele fanden sich bereits zum Znacht in der Festwirtschaft ein und genoss Grilladen, Salate und das gemütliche Beisammensein am Vorabend des 1. August.

Der Jodlerklub Kölliken eröffnete musikalisch den offiziellen Festakt 2023 und Frau Gemeindeammann Jacqueline Hausmann begrüsste die Bevölkerung und freute sich über den «hohen Besuch» aus Aarau und die Festrede von Landammann Jean-Pierre Gallati.

Der Landammann sprach über die Bedeutung und den geschichtlichen Hintergrund der Neutralität der Schweiz. «Die Schweiz hat ihre Neutralität auch immer wieder für gute Dienste genutzt und war mehrfach Ort für Verhandlungen zwischen zwei Streitparteien.» Der Ukraine-Krieg stelle unsere Neutralität einmal mehr auf die Probe, sagt Gallati weiter. «Wir sollten den Kopf nicht in den Sand stecken. Sowohl Handeln als auch Nichthandeln haben Konsequenzen.» Eine absolute Auslegung unserer Neutralität würde dem Aggressor Russland in die Hände spielen. Darum erachtete es Gallati als richtig, «dass die Schweiz die EU-Sanktionen gegen Russland mitträgt».  

Kritisch äusserte sich der Landammann gegenüber dem Zustand unserer Armee. Die Schweiz verfolge im Fall einer konkreten Bedrohung ein sogenanntes Aufwuchs-Konzept. «Das heisst, bei einer Verschlechterung der sicherheitspolitischen Situation, soll die Armee in den Bereichen Doktrin, Organisation, Ausbildung, Material und Personal verstärkt werden. Vorher nicht.» Um diesen Aufwuchs zu ermöglichen, müsse zudem das entsprechende Know-How vorhanden sein. «Es ist fraglich, ob die Schweizer Armee im Fall einer plötzlichen Gefahr angemessen reagieren kann?»  

Im dritten und letzten Teil hob der Landammann die vielen Vorteil der direkten Demokratie hervor und rief die Bevölkerung auf, sich aktiv einzubringen und das Land mitzugestalten. «Auch in kleinerem Rahmen, auf Gemeindeebene, ist ihr Engagement für das Funktionieren der direkten Demokratie zentral», betonte Gallati. Klar brauche jedes (politische) Engagement viel Zeit, «aber dafür leben wir in einem Land, das wir selbst mitgestalten können, unserer Heimat».

Im Anschluss sang die Bevölkerung den Schweizer Psalm. Während die kleinen Besucher am Lampionumzug teilnahmen, genossen die Erwachsenen Kaffee und Kuchen und das gemütliche Beisammensein. RAN

Hier die Rede von Landammann Jean-Pierre Galatti

Sehr geehrte Damen und Herren

Ich freue mich, dass ich Ihnen zum heutigen Nationalfeiertag im Namen des Aargauer Regierungsrats die besten Grüsse und Wünsche überbringen darf.

Neutralität

Als der erste Weltkrieg ausbrach, hielt der Schriftsteller Carl Spitteler Mitte Dezember 1914 vor der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Zürich eine bemerkenswerte Rede mit dem Titel „Unser Schweizer Standpunkt“. Darin beschwor er seine Landsleute zur Einigkeit, denn er hatte festgestellt, dass man in der Deutschschweiz tendenziell mit Deutschland sympathisierte, während die Westschweiz es eher mit Frankreich hielt. Er rief eindringlich dazu auf, sich angesichts der bekriegenden Grossmächte in Europa auf den „richtigen neutralen, den Schweizer Standpunkt“ zu stellen und Zurückhaltung zu üben.

Die Rede kam damals, wenige Monate nach Kriegsausbruch, weder in Deutschland, wo Spitteler als Autor grosse Bekanntheit genoss, noch in der Schweiz gut an. Nach dem Krieg allerdings erhielt Spitteler den Nobelpreis für Literatur und heute ist die Rede wohl sein berühmtester Text.

Ich zitiere Spitteler und seinen „Schweizer Standpunkt“, weil die Diskussion über die Neutralität seit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs vor bald anderthalb Jahren wieder an Aktualität gewonnen hat. Zwar liegen die Sympathien der West- und der Deutschschweiz heute mit kaum nennenswerten Ausnahmen auf derselben Seite. Aber wir müssen uns fragen, was unsere Neutralität heute bedeutet.

Der Legende nach ist die Eidgenossenschaft seit der Schlacht von Marignano (1515) neutral. Diese Legende ist aber erstaunlich jung: Sie wurde nämlich erst Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts populär und setzte sich in den 1930er Jahren, im politischen Klima der Geistigen Landesverteidigung, durch. Wie der Historiker Marco Jorio ausführt, geht die „dauernde Neutralität“ der Schweiz nicht auf Marignano, sondern vielmehr auf den Dreissigjährigen Krieg zurück. 1648 schied die Schweiz mit dem Westfälischen Frieden aus dem Verband des Heiligen Römischen Reichs aus und wurde damit de facto ein souveräner Staat, der somit auch über ihre eigene Neutralität oder Nicht-Neutralität entscheiden konnte. Völkerrechtlich anerkannt wurde die Neutralität der Schweiz dann aber vor gut 200 Jahren am Wiener Kongress (1815) von den damaligen Grossmächten. 1907 unterzeichnete die Schweiz das fünfte Haager „Abkommen betreffend die Rechte und Pflichten neutraler Staaten und Personen im Falle eines Landkrieges“, nachdem sie es 1899 noch abgelehnt hatte. Darin wurde das Neutralitätsrecht erstmals kodifiziert, auch wenn nicht alle Kriegsbereiche geregelt wurden. Die Schweiz ist bis heute sicher das erste Land, das einem beim Stichwort Neutralität einfällt.
Sie hat viel zur Entwicklung des Neutralitätsrechts beigetragen und ihre Neutralität immer wieder auch für ihre guten Dienste genutzt. So war sie beispielsweise Ort für Verhandlungen zwischen zwei Streitparteien.

Die Neutralität war und ist aber nicht unumstritten. Sie hat im Lauf der Geschichte verschiedene Belastungsproben erlebt: Im 19. Jahrhundert waren das beispielsweise die italienischen Einigungskriege, der sogenannte Neuenburgerhandel 1857 oder der Savoyerhandel. Im 20. Jahrhundert waren es dann grössere Dimensionen: die beiden Weltkriege, der Kalte Krieg. Heute ist es der Ukraine-Krieg, welcher unsere Neutralität auf die Probe stellt.

Unsere Neutralität heute kann keine Gesinnungsneutralität sein. Es heisst „Neutralität“, nicht „Neutralismus“! Wir sollten den Kopf nicht in den Sand stecken. Sowohl Handeln als auch Nichthandeln hat Konsequenzen. Eine absolute Auslegung unserer Neutralität würde dem Aggressor Russland in die Hände spielen. Darum ist es richtig, dass die Schweiz auf der Grundlage des seit 2003 geltenden Embargogesetzes die EU-Sanktionen gegen Russland mitträgt.

Die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs haben wir bis in die Schweiz zu spüren bekommen. Seit Mitte März 2022 wurden 82’664 Gesuche um Schutz von Personen aus der Ukraine gutgeheissen. Im Kanton Aargau sind momentan immer noch fast 5’000 Personen untergebracht, davon 32% bei Privaten und 57% bei den Gemeinden. Die Grosszügigkeit, mit der Gastfamilien Geflüchtete aufgenommen haben, oder die über 50 Millionen Franken, welche am Solidaritätstag der Glückskette gespendet wurden, zeigen, dass die humanitäre Tradition der Schweiz keine leere Phrase ist. An dieser Stelle möchte ich allen ganz herzlich danken, die sich in irgendeiner Form bei der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine engagiert haben. Allein hätte der Kanton es nicht geschafft, so viele Menschen in so kurzer Zeit unterzubringen.

Landesverteidigung

Eine andere Auswirkung des Kriegs ist, dass die Diskussion über die Landesverteidigung wieder an Aktualität gewonnen hat. Einerseits steht zur Debatte, ob die Schweiz Waffenexporte genehmigen soll oder nicht, und ob das mit der Neutralität vereinbar wäre. Aktuell sind Waffenlieferungen an kriegsführende Staaten verboten. Die Diskussion darüber, ob es eine Anpassung des Kriegsmaterialgesetzes braucht, ist im Parlament hängig. Andererseits stellt sich auch die Frage, was unsere Armee überhaupt kann. Die Schweiz verfolgt für den Fall einer konkreten Bedrohung ein sogenanntes Aufwuchs-Konzept. Das heisst, bei einer Verschlechterung der sicherheitspolitischen Situation, soll die Armee in den Bereichen Doktrin, Organisation, Ausbildung, Material und Personal verstärkt werden. Dieses Konzept ist für Situationen gedacht, in denen sich eine Bedrohung Jahre im Voraus abzeichnet und viel Zeit zum Reagieren bleibt. Dagegen ist es wenig geeignet, wenn sich die Sicherheitslage rasch und unvorhersehbar verändert. Um den Aufwuchs zu ermöglichen, muss zudem das entsprechende Know-How vorhanden sein. Es ist fraglich, ob die Schweizer Armee im Falle einer plötzlichen Gefahr angemessen reagieren könnte. Das Konzept des Aufwuchses („savoir-faire-Armee“) ist gescheitert. Das Konzept „pouvoir-faire“ ist das richtige.

Direkte Demokratie

Wie auch immer man zur Frage der Neutralität steht: Es ist gut, wenn wir in der Schweiz ab und zu auch solche Fragen debattieren. Denn eine lebendige Diskussionskultur ist zentral für eine funktionierende direkte Demokratie. Neutrale Zurückhaltung ist Schweiz-intern also nicht gefragt, vielmehr braucht es die aktive Teilnahme der Bürger an politischen Diskussionen und Entscheiden. Es ist eine Besonderheit unseres Landes, dass man als Bürger nicht nur an den Wahlen teilnehmen, sondern seine Überzeugungen auch via Abstimmungen ausdrücken kann. Diese Teilnahme ist ein Recht, aber auch eine Pflicht. Die Bürger müssen sich über verschiedenste Sachverhalte informieren, um nach bestem Wissen und Gewissen abstimmen zu können. Deswegen sind auch kontroverse Diskussionen, z. B. über die Neutralität, gut: Sie sind eine Gelegenheit, uns zu überlegen, was Neutralität denn genau bedeutet und ob wir sie weiterhin so handhaben wollen wie bisher oder ob wir sie anpassen müssen. Über die Ausgestaltung der Neutralität gibt es übrigens kaum gesetzliche Vorgaben, sondern vielmehr völkerrechtliche Verträge.

Die zahlreichen Abstimmungen über die verschiedensten Themen können einem manchmal als übertrieben erscheinen. Das Ausland lacht jeweils, wenn wir über Kuhhörner abstimmen oder mehr Ferien ablehnen (das ist übrigens schon mehrfach geschehen). Aber: Gerade, weil es viel Gestaltungsfreiheit bietet und auch kleine Veränderungen ermöglicht, ist das politische System der Schweiz so stabil. Welcher andere Staat um uns herum hat in Grundzügen immer noch denselben politischen Aufbau, wie Mitte des 19. Jahrhunderts?

Dieses Jahr feiern wir immerhin 175 Jahre moderne Schweiz bzw. 175 Jahre Bundesverfassung. Diese trat am 12. September 1848 in Kraft. Natürlich hat sich in 175 Jahren viel verändert. Aber es ist auch vieles gleichgeblieben: Wir haben immer noch die drei Ebenen Bund, Kantone, Gemeinden. Wir haben immer noch sieben Bundesräte. Wir haben immer noch dasselbe Zwei-Kammer-System wie 1848. Und wir stimmen immer wieder über ähnliche Themen ab, wie schon unsere Vorfahren: 1879 beispielsweise über ein Bundesgesetz über „Subsidien für Alpenbahnen“. Die entsprechenden Diskussionen können wir uns sofort vorstellen, auch ohne einen Blick in die damaligen Zeitungen zu werfen. Das verbindet uns mit der Geschichte und mit unseren Vorfahren.

Nicht nur bei den grossen, nationalen Fragen, wie derjenigen nach den Kuhhörnern, braucht es die Stimmen der Bürger. Auch in kleinerem Rahmen, auf Gemeindeebene, ist ihr Engagement für das Funktionieren der direkten Demokratie zentral. Nicht zufällig begehen wir die Bundesfeier in den Gemeinden, nicht etwa mit dem Kanton oder dem Bund. Dass immer mehr Gemeinden Mühe bekunden, ihre politischen Ämter und Behörden zu besetzen, sollte uns zu denken geben. Denn die 2136 Gemeinden sind unsere unmittelbare Umgebung und diese wird von den Menschen gestaltet, die in ihr wohnen. Klar braucht jedes (politische) Engagement viel Zeit, aber dafür leben wir in einem Land, das wir selbst mitgestalten können, unserer Heimat.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen eine schöne Bundesfeier, einen gefreuten 1. August.

Landammann Jean-Pierre Galatti